Auslegung des TV-V: Tarifliche Sonderzahlung – Bemessungsgrundlage
Das Bundesarbeitsgericht hat eine grundlegende Entscheidung zur Auslegung des Tarifvertrags Versorgungsbetriebe (TV-V) getroffen. Dieser Tarifvertrag vom 5.10.2000 gilt als Spartentarifvertrag für kommunale Versorgungsbetriebe.
Orientierungssatz:
Der volle Anspruch auf die Sonderzahlung nach § 16 Abs. 1 TV-V ermäßigt sich nicht um 1/12 für jeden Kalendermonat, in dem der Arbeitnehmer einen Krankengeldzuschuss nach § 13 Abs. 1 Satz 2 TV-V erhalten hat. Auch dies sind Zeiten der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall i. S. von § 16 Abs. 1 Satz 4 TV-V.
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Höhe einer tariflichen Sonderzahlung für das Jahr 2009.
Die Klägerin ist für die Beklagte in Teilzeit als Hausmeisterin gegen ein Bruttomonatsentgelt von zuletzt 540,19 Euro tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TV-V Anwendung.
Die Klägerin war seit dem 13.1.2009 arbeitsunfähig erkrankt. Sie erhielt bis zum 23.2.2009 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und daran anschließend bis zum 19.10.2009 den tarifvertraglichen Zuschuss zum Krankengeld. Die Beklagte hat die Kalendermonate, in denen sie einen Krankengeldzuschuss gezahlt hat, bei der Bemessung der tarifvertraglichen Sonderzahlung nicht berücksichtigt und lediglich anteilig für die Kalendermonate Januar und Februar 2009 eine Sonderzahlung in Höhe von 90,03 Euro brutto geleistet.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, der Anspruch habe sich nach § 16 Abs. 1 Satz 4 TV-V nicht für die Kalendermonate ermäßigt, in denen sie einen Krankengeldzuschuss bezogen habe.
§ 16 Abs. 1 Satz 4 TV-V lautet wie folgt:
„Der Anspruch ermäßigt sich um ein Zwölftel für jeden Kalendermonat, in dem der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Entgelt(§ 6), Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (§ 13) oder Fortzahlung des Entgelts während des Erholungsurlaubs (§ 14) hat.“
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nur Kalendermonate mit gesetzlicher Entgeltfortzahlung seien von der Kürzung der Sonderzahlung ausgenommen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht (Düsseldorf) haben die Klage abgewiesen.
Prozessergebnis:
Die Klägerin hatte vor dem BAG Erfolg.
Begründung:
Der Anspruch der Klägerin hat sich nicht für die Monate März bis Oktober 2009 ermäßigt, in denen die Beklagte den tarifvertraglichen Zuschuss zum Krankengeld gezahlt hat. Dies sind Zeiten der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall i. S. von § 16 Abs. 1 Satz 4 TV-V, die von der Kürzung ausgenommen sind. Das ergibt die Auslegung der Tarifnorm.
Der Wortlaut, von dem bei der Tarifauslegung vorrangig auszugehen ist, ist nicht eindeutig. Denkbar ist, dass nur Kalendermonate mit gesetzlicher Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 EFZG von der Kürzung ausgenommen sind; der Klammerzusatz „(§13)“ spricht aber eher dafür, dass dies für alle Kalendermonate gilt, in denen der Arbeitgeber nach § 13 TV-V Leistungen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und daran anschließend Leistungen des Zuschusses zum Krankengeld erbringt.
Der tarifliche Gesamtzusammenhang des TV-V bestätigt dies. Die Überschriften der Tarifnormen geben das tarifliche Verständnis des nachfolgenden Regelungszusammenhangs wieder. Enthält eine Tarifnorm mehrere Regelungsgegenstände, so ergibt sich dies aus der Überschrift (§ 2 TV-V „Arbeitsvertrag, Probezeit“, § 15 TV-V „Sonderurlaub, Arbeitsbefreiung“). § 13 TV-V („Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall“) regelt danach, was nach tariflichem Verständnis als Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verstanden werden soll. Wegen des Klammerzusatzes („§ 13“) liegt es nahe, dieses tarifliche Verständnis auch der Kürzungsregel des § 16 Abs. 1 Satz 4 TV-V zugrunde zu legen.
Verbleibende Zweifel beseitigt die Tarifgeschichte. Der TV-V hat als Spartentarifvertrag erstmalig Arbeitnehmer aus dem BMT-G und dem BAT in ein einheitliches Tarifrecht überführt; der TV-V ersetzt in seinem Anwendungsbereich beide Tarifverträge. Für Arbeiter und Angestellte in kommunalen Versorgungsbetrieben konnte damit der BMT-G, der BAT oder der TV-V zur Anwendung kommen. Nach den Zuwendungstarifverträgen besteht der Anspruch auf eine Zuwendung unabhängig davon, ob der Angestellte oder Arbeiter im Zuwendungsjahr arbeitsunfähig erkrankt ist oder ob er Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder einen Krankengeldzuschuss bezieht; auch nach Ablösung beider Tarifwerke unterbleibt nach § 20 Abs. 4 TVöD/TV-L eine Minderung des Anspruchs für Zeiten, in denen Krankengeldzuschuss gezahlt wird. Durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass der Anspruch auf Sonderzahlung nach § 16 TV-V in diesem Punkt grundlegend anders ausgestaltet ist als in den zunächst weiter geltenden Tarifwerken bzw. dem TVöD/TV-L, sind nicht erkennbar und hätten deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen. Dies ist unterblieben.
Auf die vollständige Begründung der Entscheidung wird verwiesen.
BAG U.v. 26.9.2012
Az.:10 AZR 330/11
Hinweis:
Eine eingehende und aktuelle Kommentierung des TV-V enthält das Werk „Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD, Loseblatt, unter der Gliederungsnummer B 4.6. Dort sind insbesondere auch sämtliche Änderungstarifverträge (zuletzt: Änderungs-TV Nr. 9 vom 31.3.2012) berücksichtigt.
Bernhard Faber
Richter am Arbeitsgericht Augsburg a. D.